Rede Wiegmann | Demokratie-Entleerung ist die Basis der Undemokraten

Roland Wiegmann

24.10.19, Bezirksversammlung Eimsbüttel

Aktuelle Halbe Stunde der Bezirksversammlung Eimsbüttel am 24. Oktober 2019, Thema: „Nie wieder, nie wieder“ anlässlich des rechtsextremistischen Terroranschlags in Halle

Geehrte Anwesende,

selbstverständlich gilt auch das Mitgefühl meiner LINKEN Fraktion den Opfern und ihren Angehörigen aber auch all‘ den durch diesen Mordanschlag Traumatisierten - und den vielen Menschen, die durch Signalereignisse wie dieses zutiefst verunsichert werden und sich individuell bedroht fühlen.

Halle steht für die Entfesselung rechtsextremer, rassistischer Gewalt.

Der Titel unserer von der FDP beantragten Aktuellen halben Stunde ist nicht zufällig identisch mit dem Titel eines WELT-Artikels von Matthias Döpfner, dem aktuellen Chef des Axel-Springer-Konzerns, der beispielhaft für systematische Manipulation des Alltagsbewusstseins in unserer neo-liberalen Gesellschaft steht.

Ich halte es für populistisches Framing, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit fälschlicherweise mit angeblich „rechtsstaatlich zweifelhafter Flüchtlingspolitik“ [1] zu begründen, um damit angebliches journalistisches und juristisches Systemversagen zu belegen.

Die Nebelkerzen der neo-liberalen Missionare sind alles andere als geeignet, die rechtsextremistischen Attentate von Halle - aber auch Kassel5, Limburg, Bottrop und Essen und die mindestens 169 Opfer rechtsextremistischer Gewalt seit 1990 zu erklären.

Die Begünstigung von AfD-Narrativen wie das angebliche Verschweigen von Ausländerkriminalität interpretiert die Fakten falsch. (Simpson-Paradoxon).

Etwas einfacher ausgedrückt: Traue keiner Statistik, die Du nicht selber gefälscht hast - oder noch einfacher aber dafür faktisch richtig: „Ausländer“ sind nicht krimineller als „Inländer“!

„Nie wieder, nie wieder“ - das ist in meinen Augen eine unzulässige Verkürzung des demokratischen Konsenses der ersten 50 Jahre in Deutschland, der lautete:

„Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen! Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“

Unser friedliebender, demokratischer Konsens wurde und wird gebrochen

  • wurde, durch den völkerrechtswidrigen Kosovo-Krieg
  • wird, durch ständige Kriegseinsätze weltweit, sowie durch immer neue Rekorde beim Rüstungsexport in Kopfab-Diktaturen über die Rüstungsdrehscheibe Hamburger Hafen [2]
  • unbestreitbar ganz wesentliche Ursachen für Flucht und Vertreibung weltweit. [3]

Und wenn schon Geflohene als Argument für Verunsicherung der Gesellschaft herhalten müssen, dann doch bitte korrekt nicht als Ursache, sondern als Ergebnis davon, dass mit nichts so viel Profit gemacht wird, wie mit Rüstung und Krieg.[4]
Ich frage:
"Warum findet sich der allgemeine Wille zum Frieden nicht in der Politik unserer Regierenden wieder?"

Geehrte Anwesende,
Demokratie braucht überlebensnotwendig nicht nur eine formaldemokratische Struktur. Sie lebt erst und gerade durch Demokratinnen und Demokraten, die Demokratie auch leben - leben dürfen.

Wachsende Verunsicherung bis hin zu diesen irrationalen und verabscheuungswürdigen Amokläufen und die Hinwendung zu vermeintlich einfachen Antworten von autoritären Nationalradikalen werden ganz wesentlich verursacht durch Demokratie-Entleerung.

  • Wenn unsere demokratisch gewählte Interessenvertretungen - unsere Regierungen durch großangelegte, neoliberale Maßnahmen wie die Agenda 2010 und Hartz 4 den Menschen ihre wirtschaftliche und soziale Basis entziehen
  • wenn sie mit der Streichung von Arbeitnehmer-Rechten, der Verschärfung der Polizeigesetze und hier in Hamburg mit „Festivals der Demokratie“ die Bevölkerung entrechtet, verunsichert und kriminalisiert,

dann entkernt sie unsere Demokratie !

  • Wenn die überwiegende Mehrheit der Hamburgischen Bevölkerung keine Privatisierung der Krankenhäuser will und diese trotzdem vom Senat verkauft wurden
  • wenn der Hamburgische Senat seit Einführung der Bürgerentscheide 19 davon einfach evozierte
  • wenn 260.000 Einwohner*innen Eimsbüttels zwar über eine gewählte, kommunalpolitische Versammlung verfügen, diese aber faktisch nur ein Verwaltungs-Ausschuss aus Gnaden der Landesregierung ist

auch dann wird Demokratie entkernt !

Auch das führt dazu, dass die Feinde unserer Demokratie - die mit den einfachen aber falschen Antworten gegen „Die da oben“ - demokratisch gewählt werden und unsere demokratischen Strukturen infiltrieren.

Sie werden dadurch aber nicht zu Demokraten.

Rechtsstaat und Demokratie sind keine beliebigen Werte, sondern stellen die Grundlagen unseres staatlichen Gemeinwesens dar. Die AfD lehnt wesentliche Elemente davon ab, wenn sie sagt: „Rechtsstaat ja, aber nur für Deutsche.“ Sie ist keine „normale“ Partei, sondern eine Anti-Partei, die sehr systematisch daran arbeitet, dass unsere Demokratie nicht mehr funktioniert.

Deswegen dürfen wir autoritäre Nationalradikale auch nicht „normal“ als Demokraten behandeln. Was als normal gilt, kann nicht mehr problematisiert werden!

Die Fraktion DIE LINKE lehnt daher jegliche Zusammenarbeit mit den Vertreter*innen der AfD in dieser Bezirksversammlung ab !

In der Zusammenarbeit demokratisch gewählter Volksvertreter*innen ziehen wir LINKE einen klaren Trennstrich zwischen differierenden politischen Ansichten innerhalb einer pluralen, demokratischen Gesellschaft einerseits und menschenfeindlichem, undemokratischem und faschistischem Gedankengut andererseits.

Der Springer-Chef nennt als Ursache für Halle: „Systemversagen der offenen Gesellschaft“.

Ich nenne als Ursache:
„Systematische Vermittlung von Macht- und Einflusslosigkeit sowie Demokratie-Entleerung“.
Keine gemeinsame Sache mit Herrn Biedermann und seinen Brandstiftern!

Im übrigen bin ich der Meinung:

Autoritärer Nationalradikalismus gehört in kein demokratisches Parlament !

Fußnoten:

[1] die keineswegs rechtstaatlich zweifelhaft war
[2] Dieser, unser friedliebender, demokratischer Konsens wurde spätestens endgültig gebrochen, als unsere demokratisch gewählte Regierung die Bundeswehr 1999 in den völkerrechtswidrigen Kosovo-Krieg schickte, strenggenommen schon mit der Wiederbewaffung der Bundeswehr 1955.
Aber dieser unser demokratischer, friedliebender Konsens wird auch gebrochen tagtäglich bis heute u.a. mit den immer neuen Rekorden der Rüstungsexporte des deutschen Kapitals in Kopfab-Diktaturen auch und gerade über die Rüstungsdrehscheibe Hamburger Hafen und weltweite Kriegseinsätze nach dem Motto: „Was machen unsere Rohstoffe in Eurem Boden?“
[3] Jede exportierte Waffe bewirkt einen Fliehenden, der an unsere Tür klopft und selbstverständlich von uns aufgenommen werden muss.
[4] Ich bin überzeugt davon, dass die Menschen in diesem Land in ihrer überwiegenden Mehrheit nach wie vor keinen Krieg wollen - zumal der afghanische Bauer, der syrische Lehrer oder die türkische Verwaltungsangestellte - die auch alle nur im Frieden leben wollen - nicht unsere Feinde sind, sondern unsere Solidarität verdienen.
[5] Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und wachsender Rechtspopulismus müssen von uns als vernetzter Angriff auf unsere demokratische Gesellschaft verstanden werden.
 

Für Rückfragen:Roland Wiegmann
 roland.wiegmann@linksfraktion-eimsbuettel.de


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