Besprechung H. Obens: Franz Walter (Hg.), Die neue Macht der Bürger, Reinbek 2013, 16.95 Euro

Hartmut Obens

Franz Walter gehört zu den wenigen deutschen linken „Medienintellektuellen“, die es vermögen, ernsthaften wissenschaftlichen Anspruch mit aktuellen Interventionen zum Zeitgeschehen auf höchst  lesbare Weise zu verbinden. Seine Analysen und Kommentare in Spiegel Online bilden eine rühmliche Ausnahme zu dem, was dieses Organ sonst so bietet.

Franz Walter ist Professor an der Universität Göttingen und leitet das Institut für Demokratieforschung, das bereits ernstzunehmende Analysen zur Parteienlandschaft (LINKE und SPD) vorgelegt hat.

Die neueste Publikation „Die neue Macht der Bürger – was motiviert die Protestbewegungen?“ versteht sich als empirisch fundierter Beitrag zur Grundlagenforschung über Protestbewegungen. Finanziert hat dieses Projekt die BP, was zunächst etwas verwundert; war und ist doch die BP, wie der Vertreter des Unternehmens einräumt, selbst Ziel von Protesten. In seinem Vorwort bekräftigt Franz Walter, dass der Sponsor keinerlei Einfluss auf Forschungsfragen, Methoden und Präsentation der Ergebnisse genommen hat. Und nach der Lektüre des Buches ist man geneigt, ihm das abzunehmen.

Als sichtbare Folge dessen, was sich als „Parteienverdrossenheit“ offenbart, sehen Walter und das Autorenteam die Bürger in Bewegung – nur wie und wohin sie sich bewegen, darüber wisse man wenig. Dabei sei diese Bürgerbewegung erst am Anfang; in den nächsten Jahrzehnten würden die Bürgerprotestler vermutlich noch eine stärkere Rolle als „Organisatoren der Unzufriedenheit“ spielen: „Spätestens zwischen 2015 und 2035 werden sich hunderttausende hochmotivierter und rüstiger Rentner mit dem gesammelten Rüstzeug der in den Jugendjahren reichlich gesammelten Demonstrationserfahrungen in den öffentlich vorgetragenen Widerspruch begeben“ (S. 10).
Augenscheinlich sei die repräsentative Demokratie auf dem absteigenden und die direkte Demokratie auf dem aufsteigenden Ast. Die erkenntnisleitenden Fragestellungen aus politikwissenschaftlicher Sicht (Lern- und Bewusstseinsentwicklungen der Akteure,  Wertvorstellungen, Sozialmoral und Traditionen, Handlungsrepertoire und –optionen, Vorstellungen von Demokratie, Parteien, Politik und Gesellschaft) werden am Beispiel der verschiedensten Protestbewegungen untersucht: Die „Recht auf Stadt-Bewegung“ in Hamburg, Stuttgart 21, Bürgerproteste gegen Bauprojekte im Zuge der Energiewende, Protest im Bereich der Bildungspolitik (u.a. in Hamburg), Anti-AKW-Bewegung in Gorleben und anderswo, Occupy-Bewegung, Anti-Euro-Proteste, satirische Protestgruppen wie DIE PARTEI, Internetproteste wie Anti-ACTA, Croudsourcing usw.

Gibt es ein Fazit? Oder: Was bleibt von den Protesten und den Bewegungen?

Aufschlussreich ist zunächst die Zusammensetzung der untersuchten Protest-Trägergruppen: Auffällig viele Hausmänner, Teilzeitangestellte, Freiberufler, Schüler, Pastoren, Lehrer und besonders Vorruheständler, Rentner und Pensionäre sind dabei (S. 302). Die Fünfundzwanzig- bis Fünfunddreißigjährigen sind am geringsten vertreten – Ausbildung, Familie, Karriere und Arbeitsstress lassen keinen Raum oder erweisen sich als karriereschädlich. Diese Anforderungen und Rücksichtnahmen spielen bei „den Alten“ keine große Rolle mehr. Dennoch betont Walter, dass die biologische Kategorie „Alter“ allein keinen Aufschluss über Mitwirkungspotenziale gibt; mitentscheidend seien gewiss auch Art, Richtung und Formen des Protestes in den sehr unterschiedlichen Bewegungen.

Allerdings spielen  die „neuen Alten“ in Verbindung mit ihren jahrzehntelangen beruflichen Kenntnissen und Erfahrungen, insbesondere in naturwissenschaftlich-technischen Bereichen, eine bedeutende Rolle, indem sie sich als unentbehrliche Ratgeber erweisen: „Sie bringen ihre Kompetenz und Erfahrungen in Initiativen, auch in Protestgruppen ein, genießen die Unabhängigkeit, um ihre Qualifikationen nach eigenem Gusto zur selbstdefinierten Entfaltung zu bringen“ (S. 307).

Diese Entwicklung birgt sicherlich auch Gefahren, denn mit dem Zerfall des politischen und kulturellen Milieus der sozialistischen Arbeiterbewegung ist eine Art neuer Bürgerlichkeit entstanden, die einen Raum für demonstrative Selbstdarstellung und Interessenartikulation geschaffen hat, der die Szenerie gelegentlich beherrscht.

Abschließend geht Walter auf das Thema „Beteiligung“ bzw.  „Partizipation“ ein. Die Erfahrung habe gezeigt, dass es das deutsche (Parteien-)System sehr wohl verstanden habe, „rebellische Kohorten“ (wie die Anti-AKW-Bewegung)  einzubinden, um sie für Innovationsanstöße und zum Ausbügeln von Repräsentationsdefiziten zu nutzen:
„Insofern wirken Partizipationsströme wie Fermente für rechtzeitige systemimmanente Innovation, die andernfalls zu spät hätten kommen können. Auf diese Weise halten sich bürgerliche Gesellschaften „durch systematischen Nonkonformismus in Form“ (S. 330).
Ein Schelm, der Böses dabei denkt – angesichts der Scholz-Offensive in Sachen „Bürgerbeteiligung“.

 

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